
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mündliche Verhandlungen in einem richtungsweisenden Verfahren geführt, das Deutschlands Online-Glücksspielregelung grundlegend verändern könnte. Die unter dem Aktenzeichen C-440/23 geführte Rechtssache befasst sich mit der Frage, ob die deutschen Beschränkungen für Lotterie- und Casinowetten mit dem EU-Recht – insbesondere mit Artikel 56 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der die Dienstleistungsfreiheit schützt – vereinbar sind.
Zentrale Streitfragen im Verfahren
Im Mittelpunkt steht eine Klage eines deutschen Anwalts im Namen eines Spielers, der von Lottoland, einem in Malta lizenzierten Anbieter von Zweitlotterien, eine Rückerstattung verlorener Einsätze fordert. Die Klage wurde in Malta eingereicht – möglicherweise, um Vorteile aus lokalen Gesetzen wie dem maltesischen Gesetz 55 zu ziehen, das dort lizenzierte Glücksspielunternehmen vor der Vollstreckung ausländischer Urteile schützt, sofern keine Verletzung des nationalen Rechts vorliegt.
Diese Klageerhebung in Malta war Gegenstand kritischer Nachfragen, etwa zur Frage, ob maltesische Gerichte überhaupt befugt sind, die Gültigkeit deutscher Gesetze im Rahmen des EU-Rechts zu beurteilen. Zwar ist der deutsche Staat kein Verfahrensbeteiligter, jedoch nahmen Vertreter der EU-Kommission sowie aus Malta, Deutschland und Belgien an der Anhörung teil.
Ein weiterer zentraler Aspekt betrifft das bis 2021 geltende Verbot nicht lizenzierter Online-Casinos in Deutschland und das damit verbundene Verbot von Wetten auf Zweitlotterien. Der EuGH muss prüfen, ob dieses Regelwerk wirklich dem Verbraucherschutz diente oder ob es gegen das Prinzip der steuerlichen Neutralität verstieß – ein Grundsatz der EU-Mehrwertsteuervorschriften, der staatliche und private Angebote nicht ungleich behandeln darf.
Ein Gutachten des Generalanwalts wird für den 10. Juli 2025 erwartet und dürfte richtungsweisend für tausende Rückforderungsansprüche in Deutschland sein. Der Jurist István Cocron bezeichnete die Verhandlung als mit „großer Spannung“ verfolgt, da es sich um die erste mündliche Verhandlung vor dem EuGH zur inzwischen aufgehobenen Glücksspielstaatsvertrag-Fassung von 2012 (GlüStV) handelte.
Einordnung: Mehrwertsteuer-Ausnahmen und mögliche staatliche Beihilfen
Die Anhörung reiht sich ein in eine breitere EU-Diskussion über steuerliche Regelungen im Glücksspielbereich. In einem separaten Verfahren (C-741/22) prüfte der EuGH, ob die Mehrwertsteuerbefreiung für staatliche Lotterien in Belgien – bei gleichzeitiger Besteuerung privater Online-Glücksspiele – gegen das Gebot steuerlicher Neutralität verstößt. Der Gerichtshof stellte klar, dass Mehrwertsteuerregelungen gleich angewendet werden müssen, wenn die Dienstleistungen vergleichbaren Bedürfnissen der Verbraucher entsprechen.
Für Deutschland bedeutet das: Nur wenn das Gericht feststellt, dass Lotterien und andere Online-Glücksspielangebote sich aus Sicht der Verbraucher wesentlich unterscheiden, sind unterschiedliche steuerliche Behandlungen rechtens. Unterschiede wie der Einfluss von Geschicklichkeit, Gewinnhöhe oder Ziehungszeitpunkt müssten die Entscheidungsfindung der Nutzer nachweislich beeinflussen.
Das Verfahren wirft zudem Fragen in Bezug auf staatliche Beihilfen auf. Falls sich herausstellt, dass bestimmte Steuerbefreiungen als unzulässige Beihilfen im Sinne von Artikel 107 AEUV zu werten sind, könnten betroffene Anbieter Schadenersatzforderungen prüfen. Gleichwohl hat der EuGH betont, dass selbst rechtswidrige Steuervergünstigungen nicht automatisch zu Entschädigungsansprüchen in Form von Steuererstattungen führen.
Ein Urteil wurde bisher nicht verkündet. Sollte das Gericht jedoch zu dem Schluss kommen, dass die ehemaligen deutschen Glücksspielregeln nicht mit dem EU-Recht vereinbar sind, könnte dies nicht nur Auswirkungen auf nationale Glücksspielgesetze, sondern auch auf grenzüberschreitende Steuer- und Verlustforderungen in der EU haben.
Quelle:
Judgment of the Court (First Chamber), Curia, 12. September 2024.